Samstag, 11. Juli 2015

Der ganz normale Wahnsinn


Der ganz normale Wahnsinn

oder eben

Theater


Als wir am 2. September 2014 unser neues Theaterprojekt „Traumwerkstatt“ starteten war das so ziemlich die schlimmste Probe meines Lebens – und ich habe schon einige schlimme Proben erlebt. Dass wir am 5.6.2015 eine ganz tolle Premiere erleben durften, war damals tatsächlich schwer vorstellbar. Aber schon in der nächsten Probe entstanden erste Sprech- und Bewegungsimprovisationen zu den Szenen die wir jetzt sehen konnten. Ein Wunder – immer wieder!
Und wie immer wenn ich dieses „Wunder“ Theater miterleben darf wird mir bewusst, was für einen tollen Beruf ich doch habe. Auch wenn man mir bei der Premiere zu meinem „Hobby“ gratulierte.

"Künstlerische Schulfächer fördern die Persönlichkeit, Hirnentwicklung und Intelligenz, sogar in Mathematik! Wissenschaftlich gesehen wären die wichtigsten Schulfächer Theater spielen, Musik, Sport, Kunst und Handarbeiten.“
Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer, Hirnforscher und Psychologe (in: Profil 20/2012)

Theaterarbeit ist tatsächlich die Persönlichkeit fördernste Beschäftigung die ich kenne. Mittlerweile beschäftigen unendlich viele Firmen Theaterpädagogen um die Defizite auszugleichen die das deutsche Schulsystem nicht hinbekommt, da der Stundenplan auf die „wichtigen“ Dinge wie Mathe, Deutsch usw. reduziert ist. Manager mitsamt ihren Abteilungen geschult: Teamfähigkeit, selbstständiges Denken UND Handeln, Selbstbewusstsein, kreative Problemlösungen finden, ….. Kreativität wird oft belächelt und damit verwechselt hübsche Bildchen zu malen oder was Nettes zu Basteln. Tatsächlich ist es viel mehr: Kreatives Denken im Job erweitert die Gestaltungsmöglichkeiten und ist die Voraussetzung um scheinbar unlösbare Probleme zu lösen, beziehungsweise um Krisenprävention zu betreiben. Das kann nun mal kein Computer. Und diese Fähigkeiten gehört zu dem, was man im Berufsalltag gefordert und man im Privaten Alltag sehr oft braucht.
Motivation ist das Zauberwort! Wenn Menschen Spaß an der eigenen Leistung haben, sie gewürdigt wird ist man auch bereit sich einzusetzen. Ob für die nächste Deutscharbeit, die Theaterpremiere oder für den Job – egal! Ich bin der Meinung, dass man sich viele Nachhilfestunden sparen könnte wenn man stattdessen an der Persönlichkeit arbeitet!

Ihre Kinder sind der Beweis für die positive Entwicklung der Theaterarbeit (das Wort „Theaterspielen“ trifft meiner Meinung nach nicht den wahren Kern dieser Art von Arbeit). Um die Theaterpädagogische Arbeit zu dem Stück und die persönliche Leistung jedes Einzelnen transparenter zu machen, hier ein paar Einblicke:


Herbst 2014
Tanzsequenz Sunrise Avenue – Nothing is over
Unser Thema heißt „Träume“. Ich frage nach den Träumen der Kinder und die Antworten sind: Reitlehrerin, Musical Darstellerin, Richter usw. Ich stelle fest, dass ich
differenzierter fragen muss und so sammeln wir verschiedene Träume: Träume, die wir für unsere Familie haben, für unser Leben, wie wir leben wollen, usw. Die Kinder diskutieren (das tun sie sehr gerne), was es für sie bedeutet, wenn Träume wahr werden, wenn sie einen Traum aufgeben müssen oder wie anstrengend es ist, wenn man einen Traum verfolgt. Die Kinder sammeln in immer neuen Gruppenkonstellationen Gesten zu diesen drei Aussagen, die Gesten werden nach und nach immer abstrakter und es entwickelt sich eine feste Choreografie. Die passende Musik finden wir erst etwa ein halbes Jahr später und meine Idee, das Ganze die Treppe runter zu spielen erforderte noch, einige Bewegungen zu vereinfachen. Handstand auf der Treppe ist ja auch nicht ganz so easy. Schwierig an dieser Szene ist, dass sich alle zur gleichen Zeit bewegen oder stillstehen. Außerdem haben die Paare unterschiedlich lange Gesten. Das muss man dann ausgleichen. Nach und nach erkennen wir, dass man bis acht zählen muss, um die Treppe runter, quer durch den Raum zum Ende der Musik passend, auf die anderen Seite zu gelangen. Vielleicht kann man sich jetzt ansatzweise vorstellen, was das für eine hochkomplizierte Angelegenheit ist. Wie sich herausstellte, kann Lilith am besten diese Zeit einteilen und alle orientieren sich an ihr. Es ist eine meiner Lieblingsszenen!
Das Abstrahieren von alltäglichen Bewegungen gehört in den Bereich des Tanztheaters und wurde von Pina Bausch entwickelt, eine der Kultfiguren der Internationalen Tanzszene und eine der bedeutendsten Choreografinnen. Auch die „Bewegungskette Mic Mac“, die sich an die „Insektenbilder“ in dem Video anschließt, die Kinder hinaus und anschließend die Treppe hochführt, sind abstrahierte Bewegungen zum Thema Träume. Jedes Kind hatte eine Geste entwickelt und theoretisch muss man diese Gesten nur hintereinander ausführen. Theoretisch. Praktisch hat man einen Rhythmus einzuhalten, muss die Füße richtig setzen und natürlich muss alles synchron sein. 10 Gesten sind nicht viel … denkt man. Aber wir hängen alle immer an den Gesten 6 und 7 – warum auch immer. Also müssen die zwei Gesten noch mal etwas verändert werden. Lulu hat es am schwersten, weil sie niemanden vor sich hat, auf sich gestellt ist und alle auf sie schauen. Eine große Verantwortung. Alle anderen haben jemanden vor sich. Wir proben immer wieder und fangen unzählige Male von vorne an aber erst als wir eine große Runde um die Beachwiese gehen, macht es plötzlich Klick.

Lena erzählt mir, wie gerne sie singt und so bekommt sie „ihr“ Gesangssolo. Im Frühling – relativ kurz vor der Premiere – überlege ich als Hintergrund ein Schattenvideo zu drehen. Wir haben eine Stunde. Eine halbe Stunde brauchen wir um das Laken an den Wänden zu befestigen. Die restliche halbe Stunde um das Video zu drehen. Da Lulu und Lilith den Songtext auswendig kennen improvisieren sie ihren Tanz mehr als schnell. Das Schneiden dagegen dauert wieder ewig. Macht aber nichts, da ich die ganze Zeit schallend lachen muss, wenn ich die Beiden agieren sehe!

Tanzsequenz Drachen sollen fliegen
Einer der ersten Sätze der fiel war: Träume ist wie fliegen – nur anders! Die anschließende Assoziationskette Fliegen – Drachen – blaue Drachen – der Song: „Drachen sollen fliegen“ bescherte uns eine der ersten Tanzszenen. Die Kinder lieben folgendes Spiel: Ich erzähle eine Geschichte, klatsche bei bestimmten Wörtern in die Hände und die Kinder stellen in Gruppen oder alle zusammen diesen Begriff nach. So entstanden jede Menge Drachen und wir mussten uns auf zwei einigen. Wer darf Drachenreiter sein? Wer kann Drachenreiter tragen? Wer ist Flügel? Wer das Maul? Wie fliegen Drachen? Wie kann man sich hinhocken ohne umzufallen? Und wie steht man dann wieder auf? Fragen über Fragen und alles muss ausprobiert werden. Ach ja – und dann noch ein bisschen Choreografie drum herum… Das war im September und das richtige Aufstehen aus der Hocke haben wir eine Stunde vor der Premiere hinbekommen.

Zukunftstraum, Nachttraum und Insektenbilder
Ein sehr beliebtes Ausdrucksmittel bei den Kindern sind Standbilder. Ein Theatermittel, mit dem Augusto Boal gearbeitet hat. Boal war ein bedeutender brasilianischer Regisseur, Theaterpädagoge und -theoretiker der das Theater der Unterdrückten erfand und dem es um die Veränderung der Realität durch das Mittel Theater ging. Durch das Reduzieren auf das Wesentliche entstehen der „Zukunftstraum“, der „Nachttraum“ und die „Insektenbilder“ – die allerdings, erst ein paar Monate später.

Spinner
Beim Sammeln verschiedenster Träume stoße ich auf Galileo, Columbus und andere „Spinnern“ und ihren „verrückten“ Träumen. Ich erzähle den Kindern was sich diese Träumer damals von der Menschheit anhören mussten und die Kinder sind sehr empört. Dass sich Erfinder, deren Erfindungen und Gedankengänge heute als wissenschaftlich erwiesen oder umsetzbar gelten, ausgelacht wurden, ist für die Kinder unvorstellbar. Schnell sammeln die Kinder jede Menge verrückte Träume.
Kleiner Ausschnitt:  auf den Kilimandscharo zu klettern, selbstwaschende Socken, wasserfestes Auto, ein Einkaufszentrum zu Hause, ein Auto das fliegen kann, wie Dornrösschen zu leben, Telefon, das sprechen kann, Haare, die sich selber bürsten, Roboter, der die Gedanken lesen kann, sprechende Haarspangen, Stifte, die von selber malt, unter Wasser leben können, in einer Eishalle leben, mit Tieren sprechen zu können, fliegende Häuser, sprechende Autos, Kirche mit Edelsteinhöhle, Rutsche runterrutschen und im Märchen landen, das böse Menschen sich in Luft auflösen, Menschen die Eier legen, 20 über Nacht, zaubern können….
Wir einigen uns auf drei „Spinner“, losen aus wer sie sprechen soll und stellen fest, dass Jana am besten den schwierigen Namen „Brüder Wright“ aussprechen kann. In Verbindung mit Lenas verrücktem Traum eines virtuellen Klassenzimmers, das einen einfach in die jeweilige Zeit reisen lässt, stand die Szene recht schnell. Jetzt muss nur noch entschieden werden, welche Ausdrucksmitte benutzt werden.
Bei dem Spiel: „Puppen tanzen lassen“ haben die Kinder verschiedene Theaterausdrucksmittel kennen gelernt: Ein Kinder ist Regisseur und bestimmt durch Hochhalten verschiedener Schilder wie seine „Spieler“ agieren sollen: Freeze, Standbild, Catwalk, … In Kombination mit Tätigkeiten und Formationen wie V-Form, Kreis, Diagonal usw. lässt der Regisseur die Puppen tanzen. Somit lernen die Kinder Szenen selber zu entwickeln. So entsteht auch diese Szene: durch Ausprobieren verschiedenster theatraler Mittel. Das ging auch sehr schnell. Was dann allerdings eine für alle gefühlte Ewigkeit dauerte war: Wir gehen im Kreis. Die Abstände und das Tempo sind immer gleich. Wir treten niemanden in die Hacken. Der Kreis „wandert“ nicht. Er wird auch nicht größer. Oder kleiner. Wir schlurfen nicht. Wir gucken gerade aus. Im April haben wir eine halbe Stunde am Stück damit zugebracht, im Kreis zu gehen. Lena hat es dabei besonders schwer, da sie außerhalb des Kreises steht und ihren Text sprechen muss und dabei eine Million Mal unterbrochen wird und wieder von vorne anfangen muss. Tatsächlich eine Zerreißprobe. Und unvorstellbar, wenn man das Ergebnis heute sieht.
Der Song „Spinner“ passt perfekt zu dieser Szene. Die einzelnen Träume, die von Musik-, Schriftsteller-, und Schauspielerkarrieren usw. handeln, waren schnell verteilt und bewegungsmäßig improvisiert. Die Choreo zum Refrain dauerte dagegen wieder eine Ewigkeit, weil das Reihenwechseln ungemein kompliziert ist. Einer der Ersten der es hinbekam, ist Emil, was ihn sehr stolz macht.

Liliths verrückter Traum ist es, eine Elfe zu sein. Wikipedia weiß alles – auch, dass in Island die Menschen an Elfen glauben. Die Kinder hören plötzlich, dass der „Verrückte Traum“ in einem anderen Land gar nicht so verrückt ist. Sie sind begeistert.

Seiltänzertraum
Balletttänzerin zu werden war Lulus Traum. Mir fällt der Song „Seiltänzertraum“ ein und wir choreografierten los. Das „ Bewegungslos am Boden liegen bleiben“ fällt den Kindern schwer und wir üben sehr lange. Erfolgreich. Lulu bekommt ihr Ballettsolo und im Mai finde ich endlich im Internet orange Regenschirme die wir für das Balllancieren brauchen.


Winter 2014
Kinderwünsche dieser Welt
Die Kinder überlegen, was wohl Kinder in anderen Ländern für Träume haben. Ich finde im Internet einen Fotografen, der Kinder und ihre Kinderzimmer fotografiert hat. Es sind sehr beeindruckende Bilder und ich wähle einige aus die ich den Kindern zeige. Zum Teil sind es sehr arme Kinder die nur eine Bambusmatte haben. Auch sehr reiche Kinder in Asien, die unendlich viel Spielzeug haben. Das Bild eines etwa 12 jährigen amerikanischen Jungen, der ein Gewehr im Arm hält, beschäftigt die Kinder sehr. Vor allem Emil gefällt das überhaupt nicht. Ein kleines Mädchen, stark geschminkt mit toupierten Haaren, macht dagegen Luise wütend. Die Kinder überlegen, was sich diese Kinder wohl alles wünschen und wir sammeln Kinderträume aus aller Welt. Es sind unendlich viele. Lena sagt: „Andrea, eins finde ich auch wichtig: Da gibt es ein Land, in dem die Frauen nur durch einen schmalen Schlitz ihres Schleiers gucken dürfen. Das finde ich nicht richtig“. Die Kinder finden alles sehr wichtig aber wir müssen kürzen. Das fällt schwer. Die beiden wichtigsten Träume sind (und zwar einstimmig und mit großem Abstand): Dass alle Waffen dieser Welt vernichtet werden und das keine Atomraketen mehr gebaut werden. Ich bin beeindruckt von dem großen Allgemeinwissen der Kinder. Wir kürzen und kürzen und irgendwann hat jedes Kind nur noch 3 Sätze. Zu diesen Sätzen malen die Kinder Aquarellbilder, wobei wir feststellen, dass wir nicht wissen wie Waffen oder Panzer aussehen und das meine gemalten Pistolen eher  wie Haarföne aussehen. Da freuen wir uns doch alle!

Rudolfo
Mittlerweile kleben wir die einzelnen Szenen auf eine Tapetenrolle, damit alle jederzeit einen Überblick haben. Dabei fällt mir auf, dass wir, um die einzelnen Szenen zu verbinden, einen literarischen Text gut gebrauchen könnten. Mit fällt „Die Werkstatt der Schmetterlinge“ von Giaconda Belli ein. In der Geschichte geht es um Rudolfo, der auch einen „verrückten Traum„ hat. Wir lesen, reden und diskutieren und die Kinder markieren die Stellen die ihnen wichtig sind. Die Geschichte eignet sich perfekt für unser Stück, und wir zerteilen sie in einzelne Abschnitte, die wir chronologisch auf unsere Tapete kleben. Die „verrückten Träume“ der Kinder werden eingefügt.


Biografische Texte der Kinder
Anhand von Rudolfos Geschichte sammeln wir Gefühle: Wut, Trauer, Zuneigung, Enttäuschung usw. Es entsteht ein Spiel: Die Kinder bewegen sich zu Musik. Ich stoppe und sage: „Als ich einmal sehr glücklich war.“ Oder: „Als ich einmal sehr einsam war“. Dieses Spiel funktioniert nur, wenn man Vertrauen in die Gruppe hat. Aus diesem Grund brauchten wir am Anfang des Projekts auch Zeit, um dieses Vertrauen aufzubauen. Wenn man so was mit Erwachsenen spielt, dauert es etwa 10 Minuten, bis jemand sich traut zu erzählen. Bei den Kindern ist das anders. Und sie haben nicht nur eine Geschichte, sondern viele – zu jedem Gefühl höre ich viele Geschichten. Manche sind lustig und manche sehr traurig. Ich erkläre den Kindern, dass diese Geschichten absolut safe bei mir sind. Und das später keiner auf der Bühne etwas erzählen muss was er nicht möchte. Und das man diese Geschichten so erzählen kann, dass der Zuschauer die „Echtheit“ erkennt, aber nicht alles über den Erzähler weiß. Und wie man Möglichkeiten findet, dass der Erzähler aus der Szene rauskommt, wenn er nicht mehr weiter erzählen kann. Die Biografischen Texte der Kinder finden nach und nach ihren Platz auf der Tapete.

Bertold - Brecht Texte
Die Kinder fragen, was ich in der letzten Fortbildung gemacht habe, und ich erzähle von Bertold Brecht, der die Zuschauer in seine Stücke involviert hat indem er sie nach ihrer Meinung zu den Dingen, die auf der Bühne passieren, befragt oder selber kommentiert. Die Kinder sind Feuer und Flamme und wollen alle unbedingt mindestens eine „Brecht – Szene“ haben. Wir verteilen alle „Brecht- Texte“ auf der Tapete und ab sofort bin ich diejenige, die Zuschauer spielt und Rede und Antwort stehen muss. Alle haben großen Spaß bei diesen Szenen und denken sich immer neue Szenarien aus. Diese Souveränität, die die Kinder in diesen Szenen bei den Aufführungen gezeigt haben, war harte Arbeit. Nur wenn man sich einer Sache sehr sicher ist und keine Angst vor „doofen“ Antworten der Zuschauer hat, kann man diese Spielfreude zeigen. Dieser „Mut zur Lücke“ in den Szenen, in der z.B. nicht gesprochen, sondern gegessen wird, ist oder die fordernde Stimmlage, in der die Kinder Antworten von den Zuschauern verlangen ist wirklich mühevolle Arbeit. Wenn man sich vorstellt, man müsste fremde Leute auf diese Art und Weise ansprechen, wird einem klar wie schwierig das sein kann.

Another Brick in the wall
Annas biografischer Text handelt von einem Tag in ihrer Schulzeit als sie einen Zusammenstoß mit ihrer Lehrerin hat. Dieser Zwischenfall passt zu der „Weisen Alten“, die Rudolfo das Träumen verbieten will und „Another Brick in the Wall“ passt auch dazu. Da zu diesem Zeitpunkt die Bühne voll mit zusammengeknüllten Zeichenversuchen von Rudolfo liegt, fällt mir die Performancegruppe „Stomp“ ein, die u.a. mit Besen rhythmische Geräusche erzeugt. Wir probieren es aus und es klappt erstaunlicher Weise sehr schnell.

Ika’s Brief
Ilka beendet „Kinderwünsche aus aller Welt“ mit dem Satz: „Und manche Wünsche kann man gar nicht mehr erfüllen.“ So wie z.B. ihr eigener Wunsch, ihren verstorbenen Großvater kennengelernt zu haben. Sie schreibt ihm einen wunderschönen Brief.

„Lenas und Emils  Hunde“
„Rudolfo träumte weiter seinen Traum. Die anderen machten sich über ihn lustig und er war traurig und fühlte sich sehr einsam.“
Traurig fühlte sich auch Emil als sein Hund starb, weil beide eine enge Beziehung hatten. Die hat Lena auch zu ihrem Hund und aus den beiden Geschichten entstand ein sehr schöner Dialog, an dem beide so lange an der richtigen Betonung feilten, bis er perfekt war.
Beide Szenen (Ilkas Brief und Lenas und Emils Hunde Dialog) sind biografische Texte, sehr persönlich und berührend. So etwas zu erzählen ist nicht einfach. Ich hab mehrfach die Wörter „süß“ und „wie niedlich“ von Zuschauern (Fremde?) gehört. Das ist aber leider völlig fehlinterpretiert und passt in keinster Weise zu diesen Szenen. Vielleicht muss man das Bewusstsein dafür schärfen, dass auch Kinder fernab von Super RTL in der Lage sind, intelligente und emotionale Texte zu schreiben, zu sprechen und zu verstehen, wenn sie entsprechend gefördert und gefordert werden.



„Der Hund“
Als die Kinder im Rudolfo Text ihre wichtigsten und schönsten Stellen markierten war schnell klar: Der Hund ist allen SEHR wichtig. Diese Begeisterung währte nur kurz. Etwa ein halbes Jahr später war sie wieder da. Die gemeinsame Szene „Der Hund“ hat allen zu schaffen gemacht. Jeder hatte mit seinen ganz persönlichen Problemen zu kämpfen, weil er bei seinem Satz an einer ganz bestimmt Stelle stehen musste  - dieses Manövrieren um die Plätze dürfte heute niemandem mehr auffallen.

Namen der Szenen
„Der Hund“ gehört eindeutig zu den für Außenstehende unverständlichsten Szenennamen. Die entstehen bei Proben, hören sich seltsam an, aber alle wissen, worum es geht.

Kinder an die Macht
Nach Annas Satz: „Wenn wir Kinder nur mehr zu sagen hätten“ fällt mir nur ein: „Gebt den Kindern das Kommando“. Den Grönemeyersong mag erstmal niemand. Text, Stimme, Musik – alles doof. Irgendwann singt einer mit. Eines Tages alle – und mittlerweile hören sie nicht mehr auf mitzusingen und einige sagen mir: „Schick mir mal die Musik“.

Welt der Wunder
„Rudolfo glaubte an sein Wunder und gab nicht auf“. Franzi erzählt von ihrer Lese- Rechtschreibschwäche, wie schwer es manchmal ist, damit zu recht zu kommen und hofft auch auf ein Wunder. Passend dazu gab’s das Lied Welt der Wunder von den Kindern kurz WWW genannt. WWW war auch schwierig. Warum weiß eigentlich niemand so genau. Lulu ist wieder die, die an erster Stelle steht und alle achten auf sie.  Aus diesem Grund steht sie auch immer am schnellsten zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Platz ist. Franzi übernimmt später in der Choreo den Mittelteil und schließlich ist alles sehr harmonisch.

Nichts ist vorbei
Einige Textauszüge haben wir dem Buch: „Es ist, was es ist“ entnommen und relativ einfach in einen Theatertext umgewandelt. D.h. Textstellen wiederholt und chorisch gesprochen. Die Kinder konnten schnell ihren Text – schwierig war nur, nach „Nothing is over“ an seinem Platz zu landen und „Präsent sein“.

Der Große Brief
Die Kinder schreiben Briefe an Rudolfo, die Weise Alte und den Hund. Stellvertretend für alle lesen Jana, Lilith und Katharina jeweils einen zusammengefassten Brief vor. Jana übt ihren Brief schön zu lesen so lange, bis sie ihn sogar auswendig kann.

Die Moorleiche
Diese Szene umfasst die Geschichten „Die Moorleiche“, „Die Vampire“, „Das Mädchen aus der dritten Klasse“, „Der Unfall“ und „Meine Freundin“ die zu den Gefühlen: Angst und Einsamkeit entstanden. Einer erzählt seine Geschichte, die anderen spielen die Szene und der Erzähler springt in die Handlung hinein. Schwierig waren nur die Übergänge zwischen Erzählen, Freeze und spielen. Texte auswendig lernen und sprechen war dagegen einfach.



Wenn ich groß bin
Die Sätze zu dieser Szene stammen aus der Anfangszeit der Theaterproben. Ich habe Satzanfänge der gesammelten Sätze von damals aufgeschrieben und von den Kindern neu beenden lassen. Dabei entstanden so schöne Sätze wie: „Wenn ich groß bin, möchte ich meinen Eltern ein Haus an der Allianz Arena kaufen“ von Anna oder „Wenn Träume in Erfüllung gehen, ist das wie… ein Feuerwerk“ von Katharina. Von Jana stammt der Satz: „In meinen Träumen kann ich … glücklich sein“ und sie achtet sehr darauf, ihre Pause einzuhalten.

Die Narbengeschichte
Wir sammeln Narbengeschichten. Innere und äußere. Katharina hat gleich zwei parat. Für die zweite stellen die Kinder recht anschaulich ein Fahrradrennen nach, zu dem Katharina ihre Geschichte erzählt. Einzige Schwierigkeit an dieser Szene: Die „Fahrräder“ wollen nicht aufhören zu quatschen.

Das Bild das seine Meinung sagt
Ilka’s verrückter Traum von einem Bild, das immer seine Meinung sagt, entwickelt sich am Anfang nur sehr langsam, dafür später immer rasanter. Es ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie Theaterarbeit die Teamfähigkeit fördert. Wenn man als Zuschauer das Endergebnis sieht, bekommt man davon nichts mit, aber bei den Proben war es sehr deutlich zu merken. Eine so schöne Idee haben, wie Ilka sie hat, reicht leider nicht. Da muss das ganze Team ran und es auch umsetzen. Dafür ist es eben auch wichtig, dass alle mitarbeiten und vor allem da sind. Sonst funktioniert es nicht.

Fireflies
So wie auch die Insektenwerkstatt draußen gespielt wird so ist es auch bei Fireflies. Es ist eine Choreo, bei der die sich nacheinander zu sich hinziehen. Der Übergang, wenn die Kinder wieder auf der Bühne sind, liebt vor allem Luise, da jetzt ihr Brechttext beginnt, bei dem sie am Anfang des Jahres noch sehr schüchtern war, aber bei der Premiere richtig losgelegt hat. Auch Franzi liebt ihren Brecht- Text bei dem sie mit dem Publikum agieren kann.

Auf uns
Diese Choreo haben wir unvorstellbar oft geübt. Ein Riesenproblem war die V- Formation, die eingehalten werden musste, die Synchronität der Schritte und das richtige Timing zur Musik. Da auch hier Lulu und Lilith vorne waren und beide ein gutes Gespür für diese Dinge haben konnten / mussten sich alle nach ihnen richten.

Freundinnenbriefe
In Rudolfos Text geht es auch um Freundschaft. Lulu und Lilith haben sich dieses Thema ausgesucht, weil sie beste Freundinnen sind. Jede hat einen Brief an die jeweils andere geschrieben – und zwar so, dass keiner was davon mitbekam. In keiner Probe wurde das jemals geübt. Deswegen war die Überraschung und die Freude auch so groß, ENDLICH diesen Brief lesen zu dürfen.

Hunderttausend Rosen
Diese Choreo gehört auch zu meinen liebsten Szenen des Stückes. Vielleicht auch, weil ich die Entwicklung mitbekommen habe. Ich habe den Songtext in Drei- oder Vierzeiler unterteilt und in 3er oder 2er Gruppen gegeben. Die Kinder hatten die Aufgabe, eine Choreo zu erstellen unter folgenden Gesichtspunkten: Welche Formation sollen die Tänzer einnehmen? In welche Richtung geht der Blick? Wer bewegt sich wann und wohin? Und in welche Richtung? Auf welcher Ebene findet das ganze statt? Am Boden, liegend, stehen,..? Welche Gesten, Mimik haben die Tänzer? Welches Tempo haben die Tänzer? Diese kurzen Zweizeiler sind auch deshalb sehr abstrakt, weil die Kinder nicht die Musik kannten.
Folgender Text wurde z.B. von Ilka, Franzi und Lulu vertanzt:
„Ich weiß wovon du redest
Wenn du das nicht mehr glaubst
Gebrannte Kinder sind wir
Doch ich schwöre es dir
Dass du dich selbst beraubst“
Man merkt: ganz schön abstrakt – so ganz ohne Musik.
Das Vertanzen ging äußerst schnell. Wir mussten nur noch die Übergänge hinbekommen und etwas angleichen. Fertig. Perfekt. Ach ja … und dann noch üben…

Übergänge
Manche Übergänge sind supereinfach weil sie von der Musik gesteuert werden oder weil es eine logische Abfolge ist. Andere sind schwieriger und da haben Anna und Luise tolle Arbeit geleistet.

Frühling  2015
Ende Februar war alles fertig und jetzt mussten wir NUR noch üben.
Zum Thema Üben höre ich oft: Ich kann den Text.
Textlernen beinhaltet: Ich kann den Text so auswendig, dass man an der Betonung, Mimik, Gestik arbeiten kann. Die Texte werden unterschiedlich gesprochen. Eine Erzählung aus Rudolfos Geschichte hat eine ganz andere Betonung als die biografischen Texte oder die „Brecht- Texte“ oder gar die verrückten Träume.
Zum Drehbuchlernen gehört auch: Ich weiß die ganze Zeit wo ich bin und wo ich hin will und wo die anderen sind und wo die hinwollen. Und ich weiß auch, dass vielleicht grade ein anderer ein Solo spricht, dass mich aber trotzdem alle Zuschauer die ganze Zeit sehen können. Man sieht und hört mich, wenn ich Quatsch mache. Und ich störe dabei denjenigen auf der Bühne. (Es sei denn, ich laufe um den Südbahnhof herum und streichele Hunde, die vorbeikommen, unterhalte mich mit dem Besitzer und bedauere ein sich übergebendes Kind – DAS geht natürlich)
Zum Drehbuch lernen gehört auch - ich kenne die Musik so gut, dass ich auch allein tanzen könnte. Theoretisch. Denn praktisch muss ich die ganze Zeit die Gruppe im Auge haben und mich daran orientieren. Das macht es auch so unendlich schwer für die Kinder wenn jemand nicht da ist.

Ich hoffe, ich konnte ansatzweise erklären, wie die Arbeit zu diesem Stück war, und zeigen, wie wertvoll das Theater für die Entwicklung aller ist. Dieses Stück ist Collagenartig aufgebaut, gehört zu den postmodernen Stücken und ist das Theater des 21. Jahrhunderts. Es ist natürlich viel einfacher ein Stück im Internet runterzuladen, den Kindern in die Hände zu drücken und zu sagen: „Bitte bis nächste Woche lernen“. Das ist 18. Jahrhundert und vom Lernfaktor mal abgesehen total langweilig. Das gleiche gilt auch für den Tanzbereich.

„Wer spielt die Hauptrolle?“
Das höre ich öfter. Da ich ressourcenorientiert arbeite, kann jedes Kind etwas, was es besonders gut kann, umsetzen. Jeder ist Hautdarsteller!
„Soviel Proben – das soll doch Spaß machen!“
Habe ich auch schon gehört. „Spaß haben“ kann man auch, wenn man Leistung zeigen kann bzw. darf ,Man sieht es in den Augen der Kinder, die nach harter Arbeit müde aber glücklich sind, weil sie souverän durchgespielt haben. In unserer „Super RTL Spaßgesellschaft“ in der es um den schnellen Lacher geht, muss immer alles ganz schnell gehen, bitte ohne viel denken, ohne viel Verantwortung und ohne viel Arbeit.
Arbeit – ja. Man spricht oft davon, dass wir in einer Leistungsgesellschaft leben. Ich sehe das nicht so. Ich finde, dass falsche Leistung gefordert wird. Immer häufiger kommen Kinder in den Kindergarten die weniger Kindergartenreif sind und Kinder in die Schule, die weniger Schulreif sind. Es ist toll, wenn man mit fünf Jahren lesen oder bis 100 zählen kann und wenn man Klassen überspringt und mit 15 sein Abi macht ist das auch großartig (abgesehen davon, dass man nicht auf seine eigene Vorabifeier darf, weil man zu jung ist!) Nichts davon interessiert jedoch später den Arbeitgeber. Den interessiert die Persönlichkeit - und da wären wir wieder am Anfang meines Textes.

Ich wünsche allen einen schönen Sommer,
bedanke mich bei den Eltern für ihr Engagement
und vor allem bei den Kindern für dieses Theaterjahr!

Andrea Crusius